Abschied

Hallo,
In den letzten Monaten habe ich diese Gruppe mehr konsumiert als bereichert. Das lag an der (inzwischen abgegebenen) Diplomarbeit, unserem Umzug und auch an den Vorbereitungen zu einer grösseren Reise, die ich allerdings abgesagt habe. Es wäre also jetzt der richtige Zeitpunkt, sich mal wieder aktiv zu beteiligen.

Irgendein Artikel aus den letzten Wochen, den ich vergangene Nacht gelesen habe, hat mich an eine kleine Geschichte erinnert, die ich vor Zeiten geschrieben habe. Ich habe immer gezögert, sie zu veröffentlichen, aber heute sollt Ihr sie haben.

"Bald kriegst du gar keinen Ton mehr aus mir heraus." Ihre Stimme klang jetzt schon, als müsste sie um jede Silbe ringen.

"Wie spät ist es denn?" Doch die Frage liess sie nicht wie erwartet aufblicken. Er startete einen zweiten Versuch: "Sieh es doch mal von der positiven Seite: In zwei Stunden hast du es hinter dir -- dann bist du mich endgültig los."

Das war ein äusserst schwacher Versuch, sie mit einem Scherz aufzumuntern. Denn obwohl sie es letztendlich gewesen war, die einen Schlussstrich unter ihre Beziehung gezogen haben wollte, fiel es ihr noch lange nicht leicht. Vielleicht wurde es dadurch sogar noch schwieriger, lastete doch im Gegensatz zu den vergangenen Abschieden auf diesem der schwermütige Druck der Endgültigkeit. Nachdem klargeworden war, dass sie nicht zu mehr als einer ganz normalen Freundschaft bereit war, er aber mehr hoffte und dieses Gefühl nicht würde unterdrücken können, hatte sie schliesslich ausgesprochen, was die logische Konsequenz dieser Situation war: Sie mussten eben ganz aufeinander verzichten.

"Mir ist, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen," durchbrach seine Stimme das Schweigen, als sie jetzt gemeinsam in der Metro standen, die sie zum Bahnhof bringen sollte.

"Mir auch -- jedenfalls mehr als nur ein paar Monate."

"Seltsam eigentlich... Dabei haben wir uns eigentlich nur ein paarmal für einige Tage gesehen."

Seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Sommerabend, als sie sich in der Reisegruppe zum ersten Mal begegnet waren. Sie hatte nach Briefmarken gefragt, und er hatte ihr einige leihen können. Auf der folgenden vierwöchigen Radtour hatten sie sich erst gelegentlich, dann immer öfter und immer intensiver unterhalten, und dabei waren ihre Gefühle füreinander gewachsen. Ein Bild aus dem zweiten Teil der Reise kam ihm immer wieder in den Sinn: Sie fuhren nebeneinander an der Donau entlang. Die Sonne schien, und ein leiser Wind wehte. Und als er sie anschaute, schien ihm aus ihrem Lächeln vor dem Hintergrund des malerischen Donautals alles Glück der Welt entgegenzustrahlen, so dass er sich gar nicht mehr abwenden konnte. Als sie seinen Blick nach einer Weile bemerkte, errötete sie leicht und sagte, er solle sie nicht so anschauen.

"Ich kann meinen Blick nicht von dir wenden," schoss es ihm durch den Kopf, "damals wie heute nicht."

Spätestens seit dieser Begebenheit hätte er merken müssen, dass er weit mehr als Freundschaft für diese Frau empfand, die ihn mit einem einfachen Lächeln so durcheinanderbringen konnte. Aus seiner Sicht jedoch ging ihre Beziehung den natürlichen Gang der Dinge, bis es einige Tage später zu einem ernsthaften Streit kam, als seine zögerlichen Annäherungsversuche und ihre klar gesteckten Grenzen aneinanderstiessen.

Wieder brach er das Schweigen: "Vielleicht hätte ich damals in Wien doch nach Hause fahren sollen. Wir hätten uns viel Stress erspart. Aber wie hätte ich dir widerstehen sollen, als du mich gebeten hast, doch weiter mitzufahren." Und nach einer kurzen Pause: "Tut dir das eigentlich heute leid?"

Sie schaute zu ihm auf, zögerte einen Augenblick, bevor sie eine kurze, kaum verständliche Antwort gab: "Nein." Und sie schüttelte dabei leicht den Kopf.

"Das ist das Problem," entgegnete er, "du magst mich zu sehr."

Auf diese Bemerkung meinte er, ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel herum wahrzunehmen.

"Wie schön sie ist," fuhr es ihm durch den Kopf, "auch wenn sie traurig ist."

Nach Wien war die Zeit der Unschuld vorbei gewesen, denn nun lag immer eine gewisse Spannung zwischen ihnen. Er, der sich nach ihrer Nähe sehnte, sie zu berühren, sie zu küssen... Und sie, die seine Sehnsucht spürte, aber dennoch versuchte, sich ganz normal zu benehmen, was ihr in dieser Situation allerdings nicht so recht gelang.

Als sie schliesslich am Ziel ihrer Reise angekommen waren, wo sie auch wohnte, war er so trübsinnig und gereizt, dass sie nicht mehr dazu kam, ihm "ihre" Stadt zu zeigen. Stattdessen war er froh, dass sie ihn am Tag darauf wenigstens noch zum Bahnhof brachte, so wie jetzt. Damals war sie in einer unerträglich gedrückten Stimmung gewesen, was er nicht verstanden hatte, war doch schliesslich er es, der wirklichen Grund zur Traurigkeit hatte. Sie hatte sich sogar geweigert, ihn zum Abschied in den Arm zu nehmen, und als der Zug sich dann in Bewegung gesetzt hatte, war das einer der schwersten Momente in seinem Leben gewesen.

Alle diese Gefühle wallten wieder in ihm auf, drohten ihn von unten her zu ersticken, während sie nun versuchte, ihr damaliges Verhalten zu erklären. Das einzige, was er davon verstand, war, dass Abschiede ihr sowieso stark zusetzten und dass es ihr damals bei ihm trotz allem besonders schwer gefallen war.

"Warum habe ich eigentlich schon wieder das Gefühl, ich müsste dich trösten?" fragte er nun, "dabei bin doch eigentlich ich der Leidtragende. Du hast doch schliesslich, was du willst."

Das war etwas unfair, das wusste er. Zwar war sie es diesmal gewesen, die schliesslich gemeint hatte, es wäre wohl besser, wenn er fahren würde. Aber er hatte sie dafür bewundert, denn er hätte nicht die Kraft gehabt, diese einzige logische Konsequenz in Worte zu fassen.

Deshalb anwortete sie auch nicht, sondern sah ihn nur kurz mit traurigen Augen an. Einen Moment lang versanken ihre Blicke ineinander, dann senkte sie den Kopf wieder.

Inzwischen waren sie am Bahnhof angekommen. Sie waren so früh, dass noch reichlich Zeit blieb, seine Fahrkarte zu kaufen und in paar Besorgungen zu machen. Dann standen sie neben dem Zug auf dem Bahnsteig und hatten noch immer eine gute halbe Stunde Zeit.

"Ein Abschied, wie er im Buche steht," ging es ihm gerade durch den Kopf, als sie vorschlug, sie könnten sich die verbleibende Zeit ja auch noch ins Abteil setzen.

Sie fanden tatsächlich ein freies Abteil, und obwohl der Zug sich rasch mit Reisenden füllte, war ihnen wohl deutlich genug anzusehen, dass sie keine Störung wünschten, dass es auch niemand versuchte.

"Was wäre, wenn ich jetzt einfach hier sitzenbleiben würde?"

Ein Seufzer entfuhr ihm: "Du weisst, dass ich dich überall mit hinnehmen würde... Aber sag so etwas nicht -- es wäre einfach zu schön!"

Er schluckte, als er einen Moment später die Hand zu ihr hinstreckte: "Bitte gib mir deine Hand."

Noch einige Stunden zuvor hätte sie sich strikt geweigert. Jetzt kam sie zögernd seiner Bitte nach: "Was hast du jetzt davon?"

"Ich geniesse es -- und es macht ja auch keinen Unterschied mehr."

Eine Weile sassen sie so wortlos da, während er ihre Rechte in seinen Händen hielt und sie sanft streichelte. Ein unbeteiligter Beobachter hätte sie für ein verliebtes Paar gehalten und sich im Stillen über ihr Glück gefreut. Und das waren sie ja auch -- jedenfalls zur Hälfte.

Dann entzog sie sich ihm wieder, setzte sich gerade auf, um kurz darauf wieder nach seiner Hand zu greifen. Was machte es schon aus, wenn sie ihm die letzten Minuten so erträglich wie möglich machte? Und unangenehm war es ihr eigentlich auch nicht, eher im Gegenteil.

Als es nur noch kurze Zeit bis zur Abfahrt war, stiegen sie noch einmal aus. Obwohl es auf dem Bahnsteig wesentlich kühler war als im stickigen Waggon, nahm das keiner der beiden wahr, als sie sich jetzt noch einmal in die Arme schlossen. Ein paar Sekunden nur, die mit der Ewigkeit zu verschmelzen schienen, obgleich sie schon einen Moment darauf Vergangenheit waren. Alle Worte waren nun zuviel, als der Schaffner darum bat, die Türen zu schliessen.

Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass auch die letzten Sekunden ihrer Bekanntschaft in Kürze verronnen sein würden wie Wassertropfen in der Wüste. Noch fühlte er sich aber nicht wie ein Verdurstender, noch war er entschlossen, den Moment festzuhalten, solange es irgend ging.

Er hatte gerade das Fenster vor seinem Abteil geöffnet, als der Zug sich in Bewegung setzte. Ein letzter, fester Händedruck, ein ersticktes "Lebewohl!" und dann konnten sie sich nur noch zuwinken, bis sie einander viel zu früh aus den Augen verloren.

Eine Zeitlang lehnte er noch am offenen Fenster, bis auch der frische Fahrtwind nicht mehr gegen den Druck ankam, der ihm die Kehle zuschnürte. Als er das Abteil betrat, fiel sein Blick auf den Gitarrenkoffer in der Ablage, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er ihr ja noch etwas zum Abschied hatte spielen wollen. Dafür war es nun für immer zu spät.

Es war ein bestimmtes Stück, das sie in ihr Herz geschlossen hatte, und als er jetzt die ersten Töne anschlug, war es, als ob sie noch einmal neben ihm sässe. Die sanfte, romantische Melodie schien das Rattern des Zuges und den Schmerz in seinem Inneren zu übertönen. Nie zuvor hatte er sie so ausdrucksstark, so perfekt hervorbringen können wie jetzt, als seine Finger nicht vom Willen gelenkt wurden, sondern allein vom Gefühl des Schmerzes und der Trauer. Die Töne tanzten im Raum wie Schmetterlinge, schwebten dann empor und zogen ihn vorwärts in die anbrechende Dunkelheit, der der Zug entgegenfuhr.

Als schliesslich der Schlussakkord verklang, war bereits die Nacht angebrochen. Eine besonders dunkle, besonders lange Nacht. Aber auch dieser Nacht, das war ihm jetzt bewusst geworden, würde irgendwann einmal ein Morgen folgen.

Martin Gebhardt

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